Die Medizinbranche ist im Aufschwung. Dies hat nicht zuletzt mit der Coronakrise und ihren Auswirkungen zu tun. Der Bedarf an Testpräparaten, Spritzen und anderen medizinischen Geräten ist weltweit gestiegen. Dies bringt nicht wenige Unternehmen dazu, mit dem Gedanken zu spielen, auf diese attraktive Branche umzusatteln. Doch dies ist nicht so einfach, denn die Medizintechnik stellt Hersteller vor einige Herausforderungen.
Eine Firma, die die Medizinbranche bereits gut kennt, ist die Werkzeugbau Ruhla GmbH aus Thüringen in Deutschland. Entstanden aus einer Uhrenfabrik und nach der Wende von einem Familienunternehmen aus Lüdenscheid übernommen, hat der Werkzeugbau insgesamt über 100 Jahre Erfahrung in der Fertigung von Präzisionswerkzeugen. Obwohl sich die Segmente, auf die sich der Werkzeugbau spezialisiert, über die Jahre geändert haben, von der Uhrenindustrie zur Automobilbranche und der Informations- und Kommunikationsbranche bis hin zur Medizinbranche, die er heute bedient, ist etwas gleichgeblieben: die Fokussierung auf präzise, kleine Teile.
Werkzeugbau Ruhla stellt Multikavitätenwerkzeuge her, meistens 64-fach, bei denen alle zehn Sekunden 64 Spritzenzylinder oder Kolben geformt werden. Durch den ständig steigenden Bedarf werden nun insbesondere Kunststoffteile wie Einwegspritzen hergestellt, aber auch Blutlanzetten oder Infusionssysteme. Die Spritzgießwerkzeuge sind für die Herstellung von unterschiedlichen Größen und Varianten von Spritzen (mit Luer-Lock, Needle-Lock oder mit Luer-Slip-Anschluss) geeignet. Denn Spritze ist nicht gleich Spritze. Geschäftsführerin Lena Lüneburger stellt eine der Produktneuheiten vom Unternehmen vor: ein Satz von Werkzeugen für eine Spritze mit einer Sicherheitsnadel K4, die Nadel verschließt und somit sicherstellt, dass sie nur ein einziges Mal genutzt wird. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schreibe dies nun vor, damit nicht dieselbe Impfspritze zweimal genutzt wird. „Zur Zeit sind wir einer der wenigen Werkzeughersteller weltweit, die Werkzeuge für solche Sicherheitsnadeln bauen“, so Lüneburger.
„In der Medizintechnik ist Nachhaltigkeit ein großer Trend. Die Kunden sollen mit weniger Material- und Energieeinsatz immer schneller produzieren können.“
Eine weitere Neuheit, die Werkzeugbau Ruhla viel Aufmerksamkeit einbrachte, ist die Entwicklung eines Werkzeugs für eine der leichtesten Impfspritzen der Welt. "Normale Kolben sind vierflügelig, und wir haben zusammen mit einem Kunden einen dreiflügeligen Kolben für eine 0,5 ml Impfspritze entwickelt", sagt Lüneburger. "Dadurch kann sehr viel Material eingespart werden, die Produktion ist somit nachhaltiger". Denn auch in der Medizinbranche geht der Trend in die Richtung, nachhaltig zu produzieren. "Das Ziel ist, dass Kunden mit weniger Material- und Energieeinsatz immer schneller ihre auf sie zugeschnittene Produkte herstellen, egal ob in der Diagnostik, Medizin-, Labor- oder Verpackungsindustrie", sagt Lüneburger. Werkzeugbau Ruhla prüft deshalb immer mit ihnen zusammen, ob Gewicht reduziert werden kann oder wie Zykluszeiten verkürzt werden können. Auch die Werkzeuge selbst werden so kompakt wie möglich gebaut – denn je kleiner das Werkzeug ist, desto kleiner ist die Spritzwerkzeugmaschine, die man dafür braucht, und eine kleinere Maschine verbraucht in der Regel weniger Strom. Auch die verwendeten Materialien spielen eine Rolle bei der Nachhaltigkeit.
"In der Medizintechnik zählen die Funktion, stabile Prozesse und Genauigkeit, das ist das Wesentliche."
Werkzeugbau Ruhla ist stark exportorientiert, mit einem Export von 60 % seiner Werkzeuge in Länder wie Indien, Indonesien, Israel und Irland. Die Kunden sitzen größtenteils im Ausland, aber die Produktion des Werkzeugbaus selber wird weiterhin in Deutschland bleiben, da man für die Branche ein einzigartiges Know-how braucht, sowohl konstruktions- als auch fertigungstechnisch. Werkzeugbau Ruhla stellt keine Serienprodukte her, alle Werkzeuge sind Unikate, die nach den Wünschen des jeweiligen Kunden entwickelt werden – oft mit seinem eigenen Logo und nach seinen konkreten Vorstellungen. "Was wir verkaufen ist eine Idee zur Realisierung des Kundenwunsches", sagt Lüneburger.
Eine Herausforderung bei Multikavitätenwerkzeugen ist, dass die Teile, die sie herstellen, quer verbaubar sein müssen. Oft werden Werkzeugsätze für eine Baugruppe hergestellt, und alle sind hochfachig. Das fertige Produkt kann etwa ein Seifenspender oder eine Blutlanzette sein. Wenn ein einziges dieser Teile nicht die optimale Masse hat, kann es sein, dass das Gerät nicht funktioniert. Eine weitere Herausforderung ist die Anwendung vieler Teile direkt im oder am menschlichen Körper. "Ein Kunststoffpartikel darf nicht in diesen gelangen, da das extrem gefährlich ist", erklärt Lüneburger. Außerdem fertigen die Kunden vom Werkzeugbau Ruhla in Reinräumen, etwas, das bereits bei der Fertigung der Werkzeuge berücksichtigt werden muss – etwa indem keine Schmierstoffe und keine Fette verwendet werden. Somit sind die Anforderungen an die Qualität extrem hoch. Für die Fertigung der Werkzeuge werden Draht- und Senkerosionsmaschinen genutzt, die alle von GF Machining Solutions stammen, zuletzt hat das Unternehmen zwei FORM X 400 angeschafft. Die Maschinen werden auch genutzt um Entwicklungsprojekte durchzuführen, wie etwa für Formeinsätze, die fein erodiert statt poliert werden sollen, da das Polieren teurer und aufwendiger wäre.
Geschäftsführerin Lüneburger ist jedes Mal fasziniert, wenn ein hochfachiges Werkzeug zum ersten Mal auf der Spritzgießmaschine getestet wird und z. B. 96 gleiche Teile aus dem Werkzeug kommen. Außerdem schätzt sie die Kreativität, die ihre Mitarbeiter an den Tag legen, um individuelle Kundenlösungen zu fertigen. Dafür bietet die Medizinbranche die ideale Grundlage: "Die Medizinbranche ist insgesamt sehr stabil im Vergleich zu anderen Branchen. Was wirklich zählt ist die Funktion, stabile Prozesse und Genauigkeit, das ist das Wesentliche".